Leitsystem Staatstheater Darmstadt

Konzeption Barrierefreiheit

CBF-DARMSTADT – der Club Behinderter und ihrer Freunde besteht seit etwa 40 Jahren. Im CBF können Menschen aller Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen Mitglied sein. Der Selbsthilfeverein organisiert Individuelle Schwerbehindertenbetreuungen sowie Schülerassistenzen um aktiv die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Überregional bekannt ist er durch den Vertrieb des Euro-Schlüssels mit dem Behindertentoiletten und Aufzüge aufgeschlossen werden können. Darüber hinaus ist der CBF in Darmstadt und auf Landesebene politisch aktiv. Im Jahr 2010 wurde dem Verein die Behindertenbeauftragung für Bauen und Mobilität von der Stadt Darmstadt übertragen. Als Sachverständiger für barrierefreies Bauen berät er jedoch auch Bauherren über die Stadtgrenzen hinaus. Dabei kann der CBF auf seine guten Kontakte zu anderen Behindertenverbänden und die Erfahrungen seiner Mitglieder, Pflegkräfte und Schulbegleiter zurückgreifen.

Das Staatstheater

In Darmstadt besteht eine mehr als 300 Jahre währende Theater-Tradition, denn bis 1945 war Darmstadt Hauptstadt zunächst des Volksstaates und später des Landes Hessen. Dies wird bis heute durch ein eindrucksvolles Schauspielhaus dokumentiert.

Über 500 Mitarbeiter arbeiten hier für ein abwechslungsreiches Repertoire aus Schauspiel, Konzerten, Musik- und Tanztheater. Verteilt auf 4 Veranstaltungsräume finden mehr als 1600 Zuschauer Platz. Ein solcher Betrieb ist nicht mehr in den historischen Bauten zu realisieren. Zwischen 1968 und 72 wurde darum ein modernes Gebäude nach den Entwürfen des Architekten Rolf Prange errichtet. Von 2002 bis 2006 erhielt es durch das Architekturbüro Lederer+Ragnarsdóttir+Oei neben einer grundlegenden Sanierung auch viel beachtete Ergänzungen. Was in den 60er und 70er Jahren noch kein Thema war, stand dabei plötzlich im Raum: Die Frage nach der Barrierefreiheit eines öffentlich zugänglichen Gebäudes.

Bauliche Barrierefreiheit

Gemeinsam mit Mitarbeitern des Staatstheaters erarbeiteten Vertreter des Blinden- und Sehbehinderten Bundes Hessen, des Landesverbandes Hessen des Deutschen Schwerhörigenbundes und des CBF ein umfassendes Konzept zur weitestgehend barrierefreien Ertüchtigung des Baubestandes. Die Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrer wurde mit dem Einbau eines Aufzuges zur Erschließung der Theater-Bar (an der auch Aufführungen stattfinden), von Treppenliften und der Absenkung von Kassen und Parkhausautomaten verbessert. Darüber hinaus wurden geeignete Sitzmöglichkeiten für Rollstuhlfahrer in den beiden großen Veranstaltungssälen geschaffen. Den Belangen schwerhöriger Menschen wurden durch die Erneuerung der Induktionsanlagen der großen Spielorte Rechnung getragen. Darüber hinaus erarbeiteten die Techniker des Hauses einen Plan, der die besten Plätze zum Empfang des Induktions-Signals dokumentiert. Auch die Kassen wurden mit Induktionsanlagen ausgestattet. Allen Besuchern kommen Kantenmarkierungen an den Treppenstufen zugute, die die Wahrnehmbarkeit der Treppengeometrie verbessern und die Stolpergefahr verringern sollen.

Bodenleitsystem

Für blinde und sehbehinderte Menschen wurde ein Bodenleitsystem eingerichtet, das von zwei ausgewählten Startpunkten zu den Abendkassen des Haupthauses und eines Nebenspielortes (Kammerspiele) führt. Leitsysteme sind aus dem Straßenverkehr hinlänglich bekannt, werden aber im Innenbereich bisher nur selten realisiert. Bedenken hinsichtlich der Kosten und der optischen Wirkung lassen leider viele Gebäudebetreiber vor ihrer Einrichtung zurückschrecken. Dabei können Leitsysteme durchaus zum Schmuck eines Hauses beitragen und müssen auch nicht teuer sein. Überdies lassen sie sich gerade bei Neubauten gut in das allgemeine Leitsystem integrieren und sind so allen Besuchern des Gebäudes von Nutzen.

Systementscheidung

Im Staatstheater Darmstadt musste das Bodenleitsystem nachträglich eingebaut werden. Da man auf staubige Fräsarbeiten im Bodenbelag verzichten wollte war klar, dass das Leitsystem als erhabene Markierung auf den bestehenden Bodenplattenbelag aufgebracht werden sollte. Darüber hinaus war es Ziel, das Leitsystem möglichst homogen in die sorgfältig geplante Innenausstattung des Gebäudes zu integrieren. Darum wurde das im Haus bei Armaturen, Schildern, Türblättern und Beschlägen vorherrschende Material Messing aufgegriffen. Es konnte ein Hersteller aus der Slowakei gefunden werden, der Messingindikatoren in Noppen- und Rippenform anbietet. Da diese bislang in Deutschland noch nicht verwendet wurden musste überprüft werden, ob sie den hiesigen Vorgaben entsprechen. Im Wesentlichen wurde nach der zu dieser Zeit in der Entwurfsfassung vorliegenden DIN 32984 (Bodenindikatoren im öffentlichen Raum) beurteilt. Während in Asien, Australien und den USA Bodenindikatoren im Innenbereich bis zu 5 mm über die Bodenoberfläche hinausragen dürfen, sind nach DIN nur 3 – 4 mm erlaubt. Die Vorgaben der Versicherer und Berufsgenossenschaften gehen noch weiter. Sie empfehlen maximale Erhebungen von 2 – 3 mm mit dem Hinweis auf die Stolpergefahr. Für das Staatstheater wurden darum Indikatoren von 3 mm Höhe gewählt. Die Noppenindikatoren wurden vom Hersteller in Kegelstumpfform mit einem Durchmesser von 25 mm angeboten. Die passenden Rippenelemente gleicher Breite waren, gemessen an der Normvorgabe, zu breit. Nach Testläufen mit Menschen mit Sehbehinderungen konnte deren Tauglichkeit jedoch nachgewiesen werden. Im Außenbereich werden sehbehinderte Menschen hauptsächlich entlang einer vorhandenen Treppenkante geleitet. Zwei wichtige Wendepunkte werden dabei durch große Aufmerksamkeitsfelder markiert, die ebenfalls aus Messing bestehen. Damit sich die Noppenfelder gegen das umgebene Kleinpflaster abgrenzen, erhielten sie glatte Ränder und wurden so unterfüttert, dass sie sich auch akustisch beim Überstreichen deutlich abgrenzen.

Trassierungsplanung

Als geeignete Startpunkte wurden eine Bushaltestelle in der Tiefgarage des Hauses und ein Taxi-Halt im Außenbereich ausgewählt. Als Zielorte wurden die zwei Abendkassen des Hauses identifiziert. In die Trassierung wurde nur eine Toilette einbezogen. Auf die Anbindung weiterer Toiletten wurde in Absprache mit dem Blinden- und Sehbehindertenbund verzichtet. Stattdessen wurde vereinbart, dass blinde und sehbehinderte Besucher an den Kassen von geschultem Personal empfangen bzw. weiter begleitet werden. Diese Lösung entspricht zwar nicht der Vorgabe der „selbständigen Nutzung“, eine Alternative wäre aber nur mit enormen Mehraufwand umzusetzen und wahrscheinlich auch unpraktikabel gewesen.

Bei der Dimensionierung von Feldtiefen und Leitstreifenbreiten musste von den Normvorgaben abgewichen werden. Es zeigte sich, dass Noppenfelder in einer Größe von 90 x 90 cm in engen Innenräumen oft dicht aneinander reichen und deren Verbindungsstreifen aus Rippen damit so kurz geraten, dass sie kaum noch ertastbar sind. Darum wurden Noppenfelder auf eine Größe von 60 x 60 cm reduziert. Entsprechend wurde auch die Tiefe von Aufmerksamkeitsfeldern angepasst. Die Breite von Leitlinien wurde von 30 auf 20 cm verringert, um einerseits hinreichenden taktilen Kontrast zu den Noppenfeldern zu gewährleisten und andererseits die Proportionen des Leitsystems optisch stimmig zu halten.

Schließlich musste der Längs-Abstand der Linienindikatoren auf das Raster der Bodenplatten abgestimmt werden, um Überschneidungen mit den Plattenfugen zu vermeiden. Dies wurde im CAD vorgeplant und später im Auslegeversuch überprüft. Solch sorgfältige Vorplanung war nötig, da die Indikatoren mit Verlege-Schablonen aufgebracht werden und bereits geringe Ungenauigkeiten der Planunterlagen zu wesentlichen Verschiebungen im Zusammenspiel von Platten und Indikatoren führen können.

Verarbeitung

Zunächst wurde die geplante Trassierung auf dem Boden angezeichnet und vorbereitete Bohrschablonen angebracht. Jede Noppe ist mit einem Befestigungs-Zapfen versehen, jedes Linienelement mit zweien. Entsprechend viele Löcher mussten gebohrt werden. Bei harten Bodenbelägen finden dabei wassergekühlte Diamantbohrer Anwendung. Das anfallende Bohrwasser wird sofort abgesaugt. Nach dem Bohren wurden die Bohrschablonen entfernt, die Bohrlöcher ausgeblasen und über Nacht trocknen gelassen. Am nächsten Tag wurden Verlege-Schablonen aufgebracht, die Bohrung mit Kleber verfüllt und die Indikatoren eingesetzt. Nach kurzem Antrocknen konnten die Schablonen wieder abgenommen werden. Für das Staatstheater wurden 6335 Noppen und 1350 Rippen verbaut. Dazu wurden 9035 Löcher gebohrt. Für die Verlegearbeit benötigten 5 Arbeiter etwa eine Woche.

Treppenmarkierungen

Im Haus wurden auch Markierungen für Treppenstufen benötigt. Man entschloss sich Elemente zu wählen, die den Indikatorennoppen des Leitsystems ähnelten. Diese Elemente haben den gleichen Durchmesser und die gleiche Oberflächenstruktur, allerdings nur eine Höhe von 1,5 mm. Hier waren wiederum Vorgaben der Versicherer zur Vermeidung von Stolpergefahren an Treppen maßgebend. Insgesamt wurden 925 Stufenmeter markiert. Dazu wurden 7880 Löcher gebohrt und ebenso viele Indikatoren aufgebracht. Die Arbeiter waren damit etwa eine Woche beschäftigt.

Weitere Maßnahmen zur Herstellung von Barrierefreiheit

Konzepte zur barrierefreien Ertüchtigung eines öffentlich zugänglichen Hauses dürfen nicht im Baulichen verharren. Die in der Besucherbetreuung beschäftigten Mitarbeiter müssen im Umgang mit den neuen Einrichtungen vertraut gemacht werden, um auf sie hinweisen oder bei deren Nutzung helfen zu können. Darüber hinaus müssen Mitarbeiter darauf vorbereitet sein, dass sie nicht auszuräumende Barrieren durch Assistenz kompensieren. Das Staatstheater richtete hierfür in Zusammenarbeit mit den Behindertenverbänden Mitarbeiterschulungen aus. In Rollenspielen wurden dabei gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen typische Situationen nachgestellt und besprochen.

Doch auch den Besuchern eines Gebäudes müssen Änderungen nahe gebracht werden. Die Besucher des Staatstheaters kennen ihr Haus gut und so wurde das optisch stark hervortretende Leitsystem anfangs durchaus argwöhnisch untersucht. Dass es letztlich sehr gut angenommen wurde, liegt sicher auch an der gezielten Pressearbeit des Staatstheaters. Die Berichterstattung der regionalen Presse erläuterte den nichtbehinderten Besuchern die neuen Einbauten und machten sie unter den Menschen mit Behinderungen bekannt. Darüber hinaus lud das Staatstheater über die Behindertenverbände zu einer kostenlosen Aufführung ein. Heute findet das Projekt auch über Darmstadt hinaus Beachtung, weil es im Hessischen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention als gelungene Maßnahme genannt wird. Schließlich veränderte das Staatstheater seine Internetpräsenz und passte sein Buchungssystem an die Belange von Menschen mit Behinderungen an.

Besucher-Resonanz

Gut möglich, dass es noch einige Zeit dauern wird, bis mehr Menschen mit Behinderungen einen Theaterbesuch wagen. Doch schon jetzt profitiert das Staatstheater Darmstadt von seinen Einrichtungen zur Barrierefreiheit. So tragen sie beispielsweise zu einer positiven Außendarstellung des Hauses bei. Die baulichen Verbesserungen für Rollstuhlfahrer kommen auch anderen Nutzern zu Gute, wie etwa der Aufzug zur Theater-Bar. Die Treppenmarkierungen verringern das Sturzrisiko für alle Nutzer. Das Bodenleitsystem passt gut zur Innenarchitektur des Staatstheaters und lädt zum Staunen ein. Handelt es sich um Schriftzeichen, um Elektroinstallationen oder haben Künstler hier den Boden vergoldet? Das Leitsystem wird noch oft für Verwunderung sorgen und dabei gleichzeitig eine besonders gastfreundliche Geste gegenüber blinden und sehbehinderten Menschen sein.